Die Schublade


Ich kann gar nicht sagen, wie lange ich mich bereits in dieser Lage befinde. Sind es vier Monate, seit ich in diese Schublade gesteckt wurde? Fünf Monate? Ich weiß es nicht. Jegliches Zeitgefühl ging mir schon vor vielen Wochen verloren. „Zeit“ ist für mich ohnehin belanglos geworden, ein Wort ohne jede Bedeutung. Einst hatte ich einen Zweck, eine Bestimmung. Heute bin ich nur noch ein weiterer vergessener Bewohner dieser vollgestopften Schublade.

Meinen neuen Lebensraum teile ich mir mit den verschiedensten Dingen. Links von mir liegen zum Beispiel die AA-Brüder, drei einst stolze und starke Batterien, denen heute nichts mehr bleibt, als von ihren guten alten Zeiten zu erzählen. Jene Zeiten, in denen sie so manches Radio mit der benötigten Energie versorgt hatten, um wunderschöne Lieder und wichtige Nachrichten ertönen lassen zu können; in denen sie bunte Weihnachtsdekoration hell leuchten ließen oder um Uhren anzutreiben, die stets zuverlässig die Zeit anzeigten und morgendlich zum Aufstehen drängten. Jetzt, nach all der Zeit, waren die Brüder wohl zu alt und schwach für solch große Aufgaben geworden. Und doch hatte man sie nicht ihrem Ende überlassen, sondern stattdessen hier in diese Schublade geworfen. Wie jeden Tag warten sie auch heute darauf, dass die große Hand sie wieder aus der Schublade befreit. Ob für niedere Dienste wie das Versorgen einer Fernbedienung oder doch für den endgültigen Tod in der Mülltonne, es ist den Brüdern mittlerweile egal, solange die ewige Qual der Ungewissheit ein Ende findet.

Ähnliche Geschichten haben wohl alle hier drin zu erzählen. Egal ob es sich dabei um die vielen Schlüssel handelt, die zu Schlössern gehören, die seit Jahren nicht mehr existieren. Oder die ausgeleierten Haargummis, die möglicherweise irgendwann doch noch mal etwas zusammenhalten könnten. Die unzähligen Kassenzettel zu Elektrogeräten, die für eventuelle Reklamationen aufbewahrt wurden, deren Thermopapier jedoch längst verblichen ist.

Und zwischen all diesen und vielen weiteren Gegenständen, die täglich in einer Welt zwischen Abfalleimer und erneuter Benutzung vegetieren müssen, lebe seit einigen Monaten ich. Im Gegensatz zu den anderen, die schon länger hier sind und trotz des täglichen Wartens keine Erwartungen mehr zu haben scheinen, habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Jedes Mal, wenn die Schublade sich öffnet und ein oder zwei Hände zwischen uns herumwühlen und uns herumschieben, habe ich die Hoffnung, dass der Mensch seinen Irrtum erkennt und mich mit seinen Händen aus dieser Schublade befreit. Zweimal hatten mich die Hände tatsächlich gepackt, ich war so aufgeregt! Doch sie legten mich wieder zu den anderen und ließen mich in dieser Welt der Ungewissheit zurück, voller Angst und Trauer.

Ich weiß bis heute nicht, warum ich in diese finstere Schublade gesteckt wurde. Im Gegensatz zu den ausgelaugten AA-Brüdern oder den ausgeleierten Haargummis habe ich meinen Zenit noch lange nicht überschritten. Ich hatte keine Funktionsstörung und habe meinem Menschen immer treu und zuverlässig gedient. Und doch bin ich jetzt hier, ohne Erklärung meiner Bestimmung beraubt und gefangen in einer finsteren Welt, während meine Hoffnung mit jedem Tag mehr und mehr schwindet. Also bleibt mir nichts übrig als in dieser Welt der Ungewissheit zu warten, bereit für meinen treuen und zuverlässigen Einsatz wie all die Jahre zuvor.

Und jeden Tag stelle ich mir dieselbe Frage:
Wird sich die Schublade irgendwann für mich öffnen?
Und falls ja, was werden die Hände mit mir machen?
Mir mein altes Leben zurückgeben? Oder mich endgültig wegwerfen?


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