Die Zugfahrt


Langsam fährt der Zug los und beginnt seine lange Reise. Mit jedem gefahrenen Meter jedoch beschleunigt der rot-weiße Zug immer auf den verrosteten Gleisen, die ihn quer durch das ganze Land tragen werden. Der ICE der neuesten Generation fährt schon nach kürzester Zeit mit seiner Höchstgeschwindigkeit von knapp 300 Kilometern pro Stunde die weitgehend gerade Strecke entlang. Die meisten Bahnhöfe auf dem langen Weg nach Berlin durchfährt der Intercity Express, ohne Halt zu machen. Das war auch der Grund, warum ich den ICE bevorzuge, die höhere Geschwindigkeit ist dabei zwei- oder sogar drittrangig für mich. Keine andauernden Zwischenstopps, bei denen ohnehin niemand ein- oder aussteigt, keine betrunkenen Halbstarken, die pöbelnd durch den Zug lallen und fallen, auf dem Weg zur nächsten Kneipe. Ich schaue zum Himmel, gerade ziehen dunkle Wolken auf und schicken sich an, diesen beinahe noch fabrikneuen Zug mit ihren dicken Regentropfen zu überschütten. Der Gedanke ist noch nicht zu Ende gedacht, als der kräftige Schauer dann auch tatsächlich einsetzt und Milliarden eiskalter, dicker Wassertropfen gegen die Wände und Scheiben des Zuges klatschen lässt.

Zugfahrten im Regen mochte ich schon als kleines Kind. Ich lehnte dann immer meinen Kopf gegen das Fenster und beobachtete, die die Regentropfen ihr kleines Wettrennen über das Fenster abhielten. Dann suchte ich mir einen Favoriten aus, dem ich die Daumen drückte und schaute zu. Ich fand es interessant, wie der Fahrtwind die einzelnen Tropfen nach hinten riss, wie sich die Wege einiger Tropfen kreuzten und diese sich dann miteinander verbanden, um das Rennen für den Rest der Distanz gemeinsam zu bestreiten. Aber ich habe nie auf den Richtigen gesetzt, damals wie heute. Ich grinse bei dem Gedanken. Ellen hatte auch immer Spaß an diesen kleinen Rennen der Natur. Oft hatten sie sich im Zug gemeinsam in das Spiel der Regentropfen vertieft, die im Fahrtwind des Expresszuges an ihnen vorbeiflossen. Das war zu der Zeit, als ich für meine Tochter noch ein Held war, den sie bewunderte. Nicht so wie heute. Nicht die peinliche Enttäuschung, die sie heutzutage verachtete. Mittlerweile ist Ellen fast schon zu einer jungen Frau herangewachsen, die bald flügge wird und als unabhängige, starke Frau ihr Nest verlässt. Wie oft hatte Nathalie ihren Ehemann und ihre Tochter regelrecht aus dem Zug zerren müssen, weil sie sonst den richtigen Bahnhof verpasst hätten.

Aber heute kann das nicht passieren, ich achte genau darauf, wo der Zug gerade entlang fährt. Er braust gerade durch die mehrere Hektar großen, saftig grünen Felder vom alten Müller. Ein wunderschönes Fleckchen Erde, beinahe unberührt. Und dann muss ich mich aufstellen, sonst verpasse ich wieder meine Endstation. Ich stehe bereit. Ein letzter Blick auf den Zug. Ich springe. Und klatsche gegen die Scheibe des ICE. Wie ein Regentropfen im Wind.


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