Leseprobe – „Geschichten aus Robynor“

Es war ein sonniger Tag in Robynor, in den Augen von Meister Ashriél wie geschaffen für einen Ausflug in die Wälder des Landes. Er nutzte ein solch gutes Wetter gerne, um das Zusammenleben von Mensch und Natur zu genießen und um den hohen Wert eben dieser Verbundenheit auch seinem Lehrling zu Gemüte zu führen. Regelmäßig erzählte Ashriél ihm die Geschichten über die großen Wächter Robynors. Diese weisen Tiere, die hunderte Jahre lang das natürliche Gleichgewicht bewahrt hatten, waren jedoch mittlerweile kaum mehr als Sagen und Legenden. Niemand, der noch lebte, hatte einen der Wächter jemals gesehen. Ebenso wie die Weisen Bären des Akira-Gebirges hatten auch die Wächter sich mit den Jahren immer mehr zurückgezogen und waren eines Tages vollends verschwunden. Auch die Elfen, Kinder der Natur, blieben fast ausschließlich unter Ihresgleichen und waren nur noch selten von den Menschen gesehen worden.
Ashriéls Lehrling, der 20-jährige Kerubin, lauschte gerne seinem Meister, wenn dieser eine Geschichte aus dem großen Fundus seines Wissens preisgab. Der junge Hexer hatte viel gelernt, seit sein Meister den Waisenjungen vor über 16 Jahren auf dem Marktplatz Robynors entdeckt hatte. Früh hatte Ashriél das enorme Potenzial gespürt, das in Kerubin verborgen schlummerte. Eines Tages, wenn seine eigene Uhr abgelaufen war, würde Kerubin ein mehr als würdiger Nachfolger als Hüter an der Seite des Königs sein.
Über viele Jahrzehnte hinweg hatte Ashriél als Oberster Berater den Herrschern des Landes gedient. Und als er kurz nach seinem 106. Sommer sein Ende gekommen sah, rief er seinen Schüler zu sich. Er ernannte Kerubin offiziell zum Meister und seinem Nachfolger an der Seite des Königs. Der Mann, der wie ein Ersatz-Vater für den Waisenjungen geworden war, legte sich in sein Bett, ganz so als wolle er sich Schlafen legen. »Eines Tages, Kerubin…«, seine Stimme versagte ihm beinah, »…eines Tages wirst du der mächtigste Hexer Robynors sein. Du wirst Großes vollbringen, Kerubin…«.

Kerubin dachte dieser Tage oft an die letzten Worte seines Meisters zurück. Es war nun fast 20 Jahre her, dass Ashriél dem allmählichen körperlichen Verfall im Alter zum Opfer gefallen war. Und er hatte mit diesen letzten Worten Recht behalten. Kerubin war der mächtigste Hexer Robynors geworden. Und er vollbrachte in der Tat Großes, war er doch der alleinige Herrscher Robynors. Zu einem großen Teil verdankte er dies seinem einstigen Meister. Dieser hatte ihn nicht nur in die Kunst der Magie eingeführt, sondern ihm auch die Erzählungen längst vergangener Zeit näher gebracht. Ohne diese Geschichten wäre er niemals auf die Spur des Schwarzen Diamanten gestoßen, jenes Relikt, das eine so enorme Vielfalt an Macht bereithielt. Der Diamant verstärkte seine magischen Fähigkeiten, verlängerte sein Leben und barg offenbar sogar die Kraft, ganze Landschaften zu verändern.

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